„Denke nicht so weit. Denke an deine Gasse“

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Die Unterstadt als liebstes Viertel Selbstständiger, die ihren Job in Großkonzernen hinschmeißen und auf eigene Faust nochmal von ganz vorne anfangen? Ja, trifft zu! „In Bukarest kannten wir nicht einmal unsere Nachbarn, mit denen wir uns das Treppenhaus im Wohnblock teilten“, sagt Octavian Filip, der die Büro-Routine an den Nagel gehängt und gemeinsam mit seiner Frau Alexandra das in Hermannstadt/Sibiu anspruchsvolle Brunch-Bistro „Ouă și unt“ aufgemacht hat. In bester Lage auf dem Weinanger/Târgu Vinului und Direktnachbarschaft zu weiteren Offerten wie der Weinstube „Wine Not?“, der Eckhaus-Gaststätte „local food & coffee“ und der technisch makellosen Fahrrad-Werkstatt „Cooperativa de Ciclism“. 

Auch „Eier und Butter“ haben dem Logo nach mit Qualität zu tun. Vielen Freischaffenden der gastronomisch und geschäftlich endlich wieder Fahrt aufnehmenden Unterstadt ist sie das Allerwichtigste. Ökonomische Rentabilität aber kommt nicht einfach von selbst. Sie auf Dauer sichern zu wollen hängt auch und gerade vom Sozialen des Alltags ab, den man sich wünscht. Folgerichtig also, dass in der dritten Oktober-Woche das eher kleine Festival „How to sibian/că“ der schon seit zehn Jahren groß engagierten „Fundația Comunitară pentru Sibiu“ (Gemeinschaftliche Stiftung für Hermannstadt) auch im Anfang Sommer 2023 eröffneten Brunch-Bistro „Ouă și unt“ für eine Zutat warb, auf die sozial profitable Gesellschaften unmöglich verzichten können.

Gemeint ist ehrenamtliche, sprich kostenlose Arbeit. Die finanziell schwer aufzuwiegen ist, doch viel Nutzen einträgt. Sechs regional aktive Nichtregierungsorganisationen trafen am Donnerstagabend, dem 17. Oktober, zu einer Vorstellungsrunde zusammen. Gemessen am offenkundig niedrigen Altersdurchschnitt der etwa 25 Personen im Bistro „Ouă și unt“ und Hermannstadt mit seinen weit über 100.000 Einwohnern blieb man unter sich und hatte einander trotzdem jede Menge zu erzählen. Weil aktuelle soziologische Studien einen etwas beunruhigenden Trend bestätigen: zur Begrüßung im ausgebuchten Bistro schickt die ausrichtende „Fundația Comunitară pentru Sibiu“ voraus, dass Erwachsene sich Forschungen zufolge immer schwerer damit täten, Freundschaften zu knüpfen. Die Taktik, womit auch in Hermannstadt und Umgebung dagegen vorzugehen probiert wird, hat einen klaren Namen – die Freiwilligenarbeit. Wo die Zahl alltäglicher Breschen sozialer Art, in die gesprungen werden möchte, praktisch ungebrochen hoch steht, kann es auch nie genug Freiwillige  geben. So „verrückt“, wie die Veranstalter des stadtweiten Festivals „How to sibian/că“ ihre eigenen Ideen finden, sind sie gar nicht. Festival-Sponsor ist das 1983 in Baden-Württemberg gegründete und seit 21 Jahren auch in Hermannstadt tätige mittelständische Unternehmen für Sensor- und Bildverarbeitungstechnologien der Qualitätsmarke „wenglor – the innovative family“.

Obwohl es ein freundliches Pflaster ist – „nach der Pandemie sind wir nach Hermannstadt gekommen, haben mit dem Finger auf die Karte getippt“, sagt eine Dame vom Kernteam der künstlerischen und aus Hunedoara kommenden NGO Creative Act – , birgt auch Hermannstadt die Tücke einer Ballung allen kulturellen Lebens in seiner Ortsmitte. Die Stellvertreterin des gemeinnützigen Vereins, der artistische Workshops für Kinder und Erwachsene bietet und im Randviertel Țiglari das Projekt „Hala X“ realisieren möchte, ist eindeutig die Seniorin des Festival-Abends im Bistro „Ouă și unt“. In Hunedoara hätte Creative Act „soziale Wirkung“ entfacht und vom möglichen Standort Hermannstadt über die „Șura Culturală Gușterița“ (Kulturscheune Hammersdorf) erfahren. Es wäre nicht praktikabel, Kultur, Bildung und Soziales voneinander zu trennen, sagt die Gründerin von Creative Act. Und „wenn wir ein bisschen Ästhetik in die Sache reinbringen, fallen die Kinder weniger stark durch Mobbing auf.“

„Denke nicht so weit. Denke an deine Gasse“, hat eine Freiwillige, die für die Kulturscheune Hammersdorf schwärmt, sich von ihrem Gründer Dr. Alexandru Ioniță sagen lassen, der orthodoxer Priester ist. Die Kulturscheune kümmert sich um Kinder einer streng benachteiligten Roma-Siedlung, hält ihre betreuende Hand aber auch über sehr alte Menschen desselben Viertels. „Hat jemand Geburtstag, geht Alexandru Ioniță mit Torte auf Besuch zu ihnen nach Hause.“ Ein wissenschaftlicher Forscher der Theologie und noch dazu selber Vater einer kinderreichen Familie, der nicht vor ständigem Kontakt zu Hilfsbedürftigen zurückschreckt, die ihr Leben in „Slum-Konditionen“ fristen, wie es im Bistro „Ouă și unt“ die Freiwillige der Kulturscheune Hammersdorf erklärt. „Unsere Pädagogin verbringt täglich fünf Stunden Zeit mit einer Gruppe von 15 Kindern“, die bislang schon zweimal in ihrer Altersklasse auf Kurzstrecken des Hermannstädter Internationalen Marathon mitgelaufen sind.

Allgemein jedoch wäre es „schwierig, Feedback von Kindern aus benachteiligten Verhältnissen zu erhalten und Projekte für sie zu schreiben“, betont die Gründerin von Creative Act. Das Konzept gesunder Freizeit- und Nachmittagsbeschäftigung macht dennoch auch andernorts Schule, statt Alleinstellungsmerkmal von NGOs wie etwa der Kulturscheune Hammersdorf zu bleiben. „Auch wir wollen eine After-School!“, fügt die Sprecherin des Vereins „Hai din pantofi în bocanci“ (Raus aus den Schuhen, rein in die Stiefel) hinzu, der ungefähr die gleichen sozialen Schwerpunkte wie auch die Sendung „Oameni izola]i“ des staatlichen Fernsehkanals TVR über ganz allein im Westgebirge/Munții Apuseni lebende Bauern und Selbstversorger setzt. „Während der Pandemie sind wir nach Cașolț gezogen“ (Kastenholz im Harbachtal/Valea Hârtibaciului), „und haben ein Jahr lang täglich je ein Kind zum Zahnarzt geführt. Sie trinken nur Energy-Drinks, weil sie keine Vorbilder haben“, so die Beschreibung von Kastenholz mit den Worten des Vereins, dem „ein Projekt zur Schulabbruch-Vorbeugung in der 7. und 8. Klasse“ vorschwebt. „Wir werden Freiwillige und Läufer für den Marathon brauchen!“

Laufen Projekte dieser Art wie am Schnürchen, bleibt letztlich auch der verdiente Erfolg nicht aus. Im Verein „We help!“ zum Beispiel ist man sehr stolz auf eine junge Erwachsene, die als Schulkind im Lesen-Lernen zwar große Schwierigkeiten hatte, doch heute ihren Lebensunterhalt in Hermannstadt als eine von mehreren Tausend Angestellten des Automobilzulieferers Continental bestreitet. „Wir haben in zehn Jahren schon drei Schülergenerationen in der After-School begleitet und arbeiten ausschließlich mit Spenden-Geldern. Es gibt bei uns keine Angestellten, ausgenommen die Buchhalterin. Wir sind alle freiwillig dabei und bieten zweimal die Woche je 15 Kindern Nachmittagsbetreuung.“ Populär ist die NGO „We help!“ besonders auch wegen der Geschenk-Aktion „ShoeBox“, womit sie schon achtmal am Hermannstädter Weihnachtsmarkt präsent war. Wofür „We help!“ einsteht? Für „das Lächeln der Kinder“, und für „Qualität, nicht Quantität“.

Dem Ideal, die regionale Breitengesellschaft hundertprozentig von individuell unglücklichen Lebensgeschichten zu heilen, kann und will kein gemeinnütziger Verein sich verschreiben. Wer global am Erreichen des Guten beteiligt sein möchte, muss das Zielpublikum seiner Hilfsbereitschaft selektieren – siehe etwa den Fingerzeig von Priester Dr. Alexandru Ioni]˛ von der Kulturscheune Hammersdorf auf nichts weiter als nur „die eigene Gasse“, deren limitierter Raum oft schon mehr als genug zu lösende Probleme offenbart. Die NGO „Asociația de poveste“ sucht ständig Freiwillige des Mindestalters von 16 Jahren anzuwerben und schickt sie einmal wöchentlich für zwei Stunden in vier von fünf staatlich finanzierten Kinderheimen unter der Aufsicht des Hermannstädter regionalen Sozialamts. Zu den Traumata, denen zum Trotz die „Asociația de poveste“ manche Lebensgeschichte auf autonom gesunden Grund zu stellen vermag, zählen der Zwang zum Betteln, das Verstoßen-  worden-Sein sowie physischer, psychologischer und sexueller Missbrauch. „Viele der Kinder“, denen die „Asociația de poveste“ Hilfe gibt, bemerkt ihre Volontärin im Hermannstädter Bistro „Ouă și unt“, wären „älter als 16 Jahre“, und einige von ihnen schaffen es, auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen und erfolgreich im Leben anzukommen. Anrecht auf Förderung durch das Sozialamt hätten sie laut Gesetz unter der Kondition des Besuchs einer Bildungseinrichtung bis zum Alter von 26 Jahren.

Dass Prävention ein gutes Mittel gegen Härtefälle sein kann, weiß man auch beim Roten Kreuz. In Hermannstadt beschäftigt es vier Büro-Angestellte und im Terrain permanent um die 35 Freiwillige. „Unsere einzige Geldquelle sind die Erste-Hilfe-Kurse“, markiert eine Mitarbeiterin der Rot-Kreuz-Filiale, der das städtische Rathaus die Zusage auf Finanzierung von Erste-Hilfe-Kursen in sämtlichen Schulen vor Ort erteilt hat. Damit Kinder, Jugendliche und Lehrer unter anderem nicht mehr Opfer oder zur Lebensrettung unfähige Zuschauer stupider Unfälle wie zum Beispiel Erstickung durch ein im Hals steckengebliebenes Bonbon werden können. 250 Lei kostet der monatlich vom Roten Kreuz angebotene Erste-Hilfe-Kurs pro Person. Volontären schenkt es ihn. Und weil natürlich alle NGOs, die in Hermannstadt gemeldet sind und heute vor einem Monat im  Bistro „Ouă și unt“ beherzt von ihren Visionen sprachen, schenkte es ihnen die Bewirtung. Wer wie die „Fundația Comunitară pentru Sibiu“ zielgerichtete Festivals wie die Veranstaltungsreihe „How to sibian/că“ und wohltätige Massenevents wie den Hermannstädter Internationalen Marathon organisiert, der im Mai 2023 das Fünftel einer Million Euro Spendengelder eingefahren hat und wozu kein Arbeitsvertrag beim chronisch kränkelnden Sozialstaat verpflichtet, muss sich in Rumänien – anders als seine chronisch selbstgefälligen Staatsbediensteten – für das Geschenke-Nehmen auch kein bisschen schämen. 

Sursa: https://adz.ro/artikel/aktuell/artikel/denke-nicht-so-weit-denke-an-deine-gasse

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