Der etwas andere Blick auf Siebenbürgen

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Der etwas andere Blick auf Siebenbürgen Ungarn-Jahrbuch(reihe) / Eine Rezension von Ortwin-Rainer Bonfert Fachpublikationen sind wissenschaftlicher Methodik folgend der Objektivität verpflichtet. Und dennoch: bedingt durch eine etwas andere Perspektive lassen Themenwahl und Gewichtung der Erkenntnisse mitunter ein etwas anderes Bild u.a. der Geschichte und Kultur in Siebenbürgen als frühe- rer Verwaltungsbereich Ungarns entstehen. Das 60-jährige Jubiläum des Ungarischen Instituts München e.V. (UIM) gibt Anlass, genauer auf das aktuelle Ungarn - Jahrbuch Bd. 38, sowie die gesamte Buchreihe zu werfen.

Vom Misstrauen zur Zusammenarbeit 

Viele der nach dem sow- jetisch niedergeschlagenen Ungarnaufstand von 1956 Geflohenen fanden in Bayern eine neue Heimat, wo sich in den Folgejahren eine kulturelle Diaspora herausgebildet hat. Im Schatten der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und ihrem 1958 gegründeten Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas und Südosteuropas wurde zum Jahreswechsel 1962/63 das Ungarische Institut München gegründet, das seit 1969 das „Ungarn-Jahrbuch“ heraus- bringt, gelegentlich zwei Jahrgänge zusammenfassend. Die Zielsetzung des UIM ging von Anbeginn über Geschichtswissenschaften hinaus, um Ungarn auch aktuell in dessen überregionalen und übernationalen Bezügen zu verorten, damit auch der kommunistischen Geschichtsklitterung im Heimatland begegnend. Die Landeskunde und politikwissenschaftlichen Themen wurden ab 2002 um Literatur und Kunst erweitert, die es insgesamt auch einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln galt. Dafür wurde das UIM dem Unga- rischen Institut der Universität Regensburg assoziert. Als ziviler Vertragspartner - jeweils hälftig von Bayern und Ungarn gefördert - entstand ein kulturelles Emblem grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Seit 2016/17 (Bd. 33) erscheint die Buchreihe im einschlägigen Verlag Friedrich Pustet. Jene Ausgaben finden allesamt in dieser Rezension Eingang.

Interdisziplinäre Themenvielfalt

Jahrbücher dieser Art entsprechen in ihrer inhaltlichen Gestaltung weitgehend den Einreichungen resultierend aus Vorträgen, Forschungsberichten und Abhandlungen des verstrichenen Jahres. Gut kuratiert wird die Themenbreite wie auch Qualität gewahrt, doch ein gewisser Zufallscharakter bleibt. Anders als Fachbeiträge zu vorgegebenen Themenkomplexen ist vorliegend die Vielfalt in mehreren Geisteswissenschaften kennzeichnend. Im Durchschnitt mindestens die Hälfte aller Beiträge betreffen Siebenbürgen, beziehungsweise Rumänien in corpore oder eignen sich für Komparatistik. Zu letzterem seien im aktuellen Band etwa „Ungarns Nationalitätenpolitik von 1918 bis 1990“ (Ferenc Eiler) oder „Die drei Pfeiler der antiruralen Politik in Ungarn 1959-1971“ (G. K. Horváth) angeführt, was man bei der Lektüre in Relation zur Situation in Rumänien setzen kann. Mehrere Fachbeiträge betreffen Minderheitenthemen: Minderheiten(schutz) in der universitären Lehre in Regensburg (Ralf Th. Göllner) und im (Hoch)Schulwesen Un- garns (Beáta Márkus) sowie „Religiöse Toleranz im plurikonfessionellen Siebenbürgen 1542-1571“ (Hans Ch. Jensen).

Beachtlich konzise ist die gestraffte Fassung der Bachelorarbeit von Leo Stauber über die siebenbürgische Memorandum-Bewegung für kulturelle Grundbedürfnisse von Rumänen und die Auswirkung auf damalige politische Zielsetzungen und Aktionen innerhalb und außerhalb des Karpatenbeckens. Im Wesentlichen werden die Erkenntnisse aus Arbeiten von Zoltán Szász (Politik und Nationalitätenfrage im Dualismus), Gerald Volkmer (Die Siebenbürgische Frage 1878-1900 in diplomatischen Beziehungen zw. Öster- reichisch-Ungarn und Rumänien) und Florian Kührer-Wielach (staatliche Integration ... im Diskurs der Siebenbürger Rumänen 1918-1933) miteinander verknüpft analysiert und mit weiteren Recherchen u.a. aus der Presse der Jahrhundertwende vertieft. Der Jungakademiker wahrt die Multiperspektive unter Berücksichtigung völlig unterschiedlicher Kompendien (u.a. von Keith Hitchins, Pop/Bolovan) zu jener Zeit. Der flüssig lesbare Beitrag zeigt, wie bereits in frühen Zeiten des Parlamentarismus kulturelle Grundbedürfnisse der Ethnien poli- tisch lediglich instrumentalisiert, jedoch der Außenpolitik geopfert worden sind. Zeitgeschichte ist hier von erschreckend aktueller Relevanz. Die Vergegenwärtigung von jener Vergangenheit hilft, Zukunft schöpferisch zu denken.

Auch speziell ungarische Themen wecken Interesse, wie z.B. die unmittelbaren binnengesellschaftlichen Auswirkungen des Friedensvertrages von Trianon (Dávid Ligeti) und zur europäischen Hungarologie (bzgl. Sprache und Literatur von Andrea Seidler; bzgl. auswärtiger Kulturpolitik Ungarns seit 1990 von Gábor Ujváry). Details ungarischer Geschichte werden von R. Skorka - B. Weisz (Finanzverwaltung des mittelalterlichen Ungarns, mit transcribierten Urkunden im Anhang), von Erika Kiss (Schatzkammer auf Burg Forchtenstein) und László Orosz (Reichsdeutsche Schule in Budapest) behandelt. Mitteilungen zum Forschungsprogramm des UIM, der studienbegleitenden Zusatzausbildung „Hungaricum“ und Sondersammlungen des UIM runden die Fachbeiträge ab.

Klare Gliederung des Buches

Die Abhandlungen und Forschungsberichte sind zumeist bei Geschichts- und Politikwissenschaft angesiedelt. Dabei weckt doch in Bd. 37 der ethnografische Be- richt über das Kalotaszeg in Zentralsiebenbürgen (Balázs Balogh / Ágnes Fülemile) mit seinem Facettenreichtum zusätzliches Interesse, im Urlaub Land und Leute zu erkunden. Auch die Berücksichtigung von Literatur und bildenden Künsten könnte verstärkt werden.

Es liegt in der Natur eines Sammelbandes, dass die Beiträge qualitativ leicht unterschiedlich sind. Die allermeisten von ihnen weisen Zwischentitel - einige mit numerischer Untergliederung - aus, so dass man sich leicht in die jeweilig strukturierten Fachaufsätze einfindet. Kurzbiografien der Autoren mit bisherigen Fachpublikationen oder Projekttätigkeiten gibt es nicht, was durch das abschließende Autorenverzeichnis kaum kompensiert werden kann. Abstracts würden in dem rund 400 Seiten starken Buch eine gute Orientierungshilfe bieten.

Die Genrevielfalt ist bei dem ca. 50 Seiten umfassenden Bereich der Buchrezensionen umfassender. Neben Fachliteratur findet auch Belletristik Berücksichtigung. Bedenkt man die Herausforderungen von Übersetzungen mit zahlreichen seltenen Fachbegriffen oder anspruchsvoller Literatur (z.B. Péter Nádas: Schauergeschichten, deutsch von Heinrich Eisterer), so bietet es sich an, jene Leistung in den Rezensionen zu würdigen. Besonders positiv fallen Rezensionen noch nicht übersetzter ungarischer Bücher auf, vermitteln sie doch den dortigen aktuellen Stand der Forschung. Vielleicht bieten sie zudem deutschen Verlegern Im Pulse für eine übersetzte Drucklegung.

Eher für Quereinsteiger geeignet ist der Beitrag im Buchkapitel „Chronik“ aus dem UIM. Im vorliegenden Band skizziert Mitherausgeber Zsolt K. Lengyel zum 60-jährigen Jubiläum die Entwicklung des Ungarischen Instituts München. Ähnlich gelagert ist im vorangegangenen Band der Nachruf auf das langjährige Vorstandsmitglied, den veritablen wie agilen Historiker Horst Glassl. Losgelöst von den genannten beiden Beiträgen lohnt sich, die Gestaltung einer durchaus berechtigten Rubrik „Chronik" neu zu denken.

Nicht zuletzt sei noch erwähnt: Das gute Preis-Leistungsverhältnis. Mit 44 Euro entspricht der Abo- preis in etwa jenem der Halbjahresschriften ande- rer Institute und liegt klar unterhalb jenem anderer Jahresbücher, die allerdings ein Schwerpunktthema auf- weisen, mit Abstracts und Autorenkurzbios aber auch geizen.

Der vorliegende Band 38 wird dem selbstgesetzten Anspruch, Ungarn in seiner historischen wie systempolitischen Entwicklung im überregionalen und über- nationalen Kontext mit zeit- diagnostischen Fachbeiträgen zu beleuchten, absolut gerecht. Insofern täuscht das monothematische Co- ver mit dem stilisierten ungarischen Staatswappen und heraldischer Krone. 

Die Buchreihe im Rückblick 

Der aktuelle Band weckt Neugier auf die früheren Jahrgänge. Regelrecht spannend lesen sich im Band 37 die diplomatischen Divergenzen der Habsburger mit dem Heilgen Stuhl, als sie sich um die Zukunft Ungarns stritten, noch bevor Prinz Eugen von Savoyen die Osmanen in einer Reihe von Schlachten endgültig verdrängt hatte. Heutzutage ist bekannt, dass ca. drei Jahre nach Kriegsende der kommunistische Führer Rumäniens die Deutschen ähnlich vertreiben wollte, wie es in Tschechien der Fall war - doch Stalin widersprach. Welche Stellung und Rolle hingegen den Nationalitäten im Nachkriegsungarn zufiel, klärt Ágnes Tóth. Die (versuchte) Einfluss- nahme der Securitate auf die Evangelische Kirche Rumäniens konnte erst vor wenigen Jahren geklärt werden. Wie es dem ungarischen katholischen Episkopat erging, zeigt ein Beitrag über die Kehrseite der vatikanischen Ostpolitik. Konkrete Komparatistik enthält der Beitrag von Ralf Th. Göllner über Wechselwirkung von Minderheitenpolitik und politischem System in Ungarn und Rumänien der Nachwendezeit - heute bei den EU-Beitrittsverhandlungen der Ukraine erneut aktuell, u.a. mit dortigen ungarischen als auch rumäni- schen Minderheiten. Unter den Buchbesprechungen sticht jene von Franz Hor- váth hervor, der sich der übersetzten „Geschichte Siebenbürgens“ des Autorenduos I.-A. Pop und I. Bolovan ohne Platzangst über acht Seiten hinweg widmet und das Werk schlüssig analysiert - lesenswert.

In den Bänden 36 bis 33 weitet sich der Themenbereich zusätzlich. Es wird der Identitätskonstruktion der deutschen Minderheit in Ungarn im Wandel der Zeit nachgegangen, wie auch eher den Unterschieden von Geistes- versus Volksgeschichte in den frühen 1940ern, sowie der Diplomatie im Sinne deutsch- stämmiger Kriegsgefangener, wie auch dem Schicksal ungarischer Emigranten 1945 in Bayern. Es wird mit Stereotypen in ethnografischen Beschreibungen der Ungarndeutschen aufgeräumt. In Band 34 sind gleich drei Forschungsberichte zur Literatur enthalten: zur Be- deutung literarischer Über- setzer, deutsch-ungarische Aspekte in der ungarischen Gegenwartsliteratur, Kulturtransfer im Rahmen siebenbürgisch-ungarischer Literatur. Interethnische Beziehungsgeflechte im frühneuzeitlichen Siebenbürgen werden beim Marktrecht, im Gefolge von Michael des Tapferen, in der Fiskalverwaltung Klausenburgs beleuchtet. Von besonderer Aktualität ist der Beitrag über die Visegrád- Kooperation wie auch jener über religiöse Toleranz in Siebenbürgen. Trianon und kein Ende? Beiträge über die unmittelbaren und Langzeitfolgen jenes Friedensvertrages werden in sozialer und kultureller Hinsicht beleuchtet. Wer bisher über die Kriegswirren 1918/19 aus der Perspektive rumä- nischer Geschichtsschreibung gelesen hat, wird in einem Fachaufsatz über die Szekler-Division von „Kriegsglück“ lesen, als die rumänischen Truppen bis Winter 1916 wieder zurück- gedrängt worden sind. Die- se Jahrbücher sind eine gute Erweiterung zur Schriftenreihen des IKGS im gleichen Verlag, oder jenen des AKSL.

Viele der Beiträge behandeln die Themen erschöpfend, einzelne sind eher Appetizer, um anhand der bibliografischen Angaben Themen vertiefen zu kön- nen oder gar anderer Geschichtsschreibung gegenüber zu stellen. Mehrheitlich vorhanden sind Beiträge mit historischen Parallelen und Überlappungen im Bezug auf das frühere Fürstentum Siebenbürgen, sowie im vergangenen Jahrhundert mit Rumänien. Angesichts etlicher Rezensionen interessanter ungarischsprachiger Bücher kommt die Frage auf: Warum wird im Banat und Siebenbürgen nicht großflächig auch Ungarisch als Fremdsprache im Schulunterricht angeboten? Die Ungarn-Jahrbücher helfen über die Sprachbarriere hinweg.   

Sursa: https://adz.ro/artikel/aktuell/artikel/der-etwas-andere-blick-auf-siebenbuergen

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