Herta Müller: Dieser Name ist oder sollte jedem Lenau-Schüler ein Begriff sein. Schließlich besuchte die Nobelpreisträgerin für Literatur die Temeswarer Nikolaus-Lenau-Schule – die dort erhaltene Bildung trug in gewissem Maße ganz bestimmt zu ihrer späteren Entwicklung als Schriftstellerin bei. Vorige Woche wurde im frisch sanierten Timiș-Kino, mitten in der Europäischen Kulturhauptstadt 2023, ein Dokumentarfilm über Herta Müller gezeigt. Hauptdarsteller waren zwei Lenau-Schüler, die sich im vergangenen Sommer auf die Suche nach Herta Müller gemacht hatten.
Emma Parfenie und Bernard Rudăreanu besuchen die elfte Klasse, Fachrichtung Mathematik-Informatik, am Nikolaus-Lenau-Lyzeum in Temeswar/Timișoara. In dem Dokumentarfilm spielen sie die Hauptrollen. Ausgehend von einer Deutsch-Stunde, in der ihre Deutsch- und Klassenlehrerin Lorette Cherăscu die Schüler auf die Bedeutung von Herta Müllers Werk aufmerksam macht, begeben sich die beiden Teenager auf die Suche nach der aus Nitzydorf im Banat stammenden Autorin, die 2009 den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat. Die Schüler, die auch in der NiL-Theatergruppe aktiv sind, fahren in das Heimatdorf der Nobelpreisträgerin, um zu recherchieren, wie Herta Müller von den Dorfbewohnern wahrgenommen wird. Dabei finden sie ihr ehemaliges Haus, an dem eine kleine Tafel angebracht worden ist, die darauf hinweist, dass die Nobelpreisträgerin dort gewohnt hat. Sie gehen in die Schule, wo durch den Einsatz von Schulleiterin Adelina Briscan ein kleines Herta-Müller-Museum eingerichtet worden ist, sie besuchen die Bibliothek, die den Namen des Schriftstellers und BZ-Redakteurs Balthasar Waitz trägt, sie begeben sich aber auch in die römisch-katholische Kirche, in die Dorfkneipe und in die orthodoxe Kirche, um mit noch mehr Ortseinwohnern in Kontakt zu treten und sich mit ihnen über Herta Müller zu unterhalten. Ein Besuch auf dem Friedhof in Nitzkydorf ist nicht sehr aufschlussreich, denn Gräber mit dem Namen „Müller“ gibt es dort viele. Die Beobachtungen und Bemerkungen von Emma und Berni sind sehr spontan, teilweise naiv, und entlocken Erwachsenen, die mit dem Thema vertraut sind, nicht selten ein Schmunzeln. Unter anderem führen die beiden ein Gespräch mit Hildegard Anghelaș, deren Familie eigenen Aussagen zufolge die letzte schwäbische Familie ist, die noch in Nitzkydorf lebt. Hildegards Opa, Johann Gion, war der Bruder von Herta Müllers Großvater, Franz Gion. Trotzdem habe Hildegard in ihrer Kindheit nur wenig Kontakt zu Herta Müller gehabt, vor allem wegen des Altersunterschiedes zwischen ihnen, erzählt sie. Bürgermeister Dănuț Drăghici verrät, dass Herta Müller den Ehrenbürgertitel ihrer Heimatgemeinde nicht entgegengenommen habe und auch sonst noch nie in ihr ehemaliges Dorf zurückgekehrt sei. Ob sie schon mal privat oder incognito in Nitzkydorf gewesen sei, das könne man nicht überprüfen, doch komplett ausgeschlossen sei es nicht. Die Dorfbewohner wissen, wer Herta Müller ist, teilweise ist auch ein gewisser Stolz bei ihnen zu spüren, dass die Nobelpreisträgerin just aus ihrem Dorf stammt. Die meisten bedauern, dass Herta Müller nichts mehr mit ihrer alten Heimat zu tun haben und nicht mehr ins Banat zurückkehren möchte.
„Der Film war eine absolute Überraschung für mich, im positiven Sinne. Einerseits wurde mir erst etwa zwei Stunden vor der Premiere bewusst, als ich den Trailer gesehen habe, dass ich eigentlich auch mit einem Sprachbeitrag im Film erscheinen werde. Ich wurde zwar während einer Unterrichtsstunde in meiner Klasse gefilmt, aber ich dachte, das würde nur mal nur so kurz im Hintergrund des Films laufen. Andererseits haben mir die gefilmte Vogelperspektive auf Nitzkydorf, der häufige Ortswechsel und die angenehme Stimmung im Film sehr gut gefallen. Aber am meisten war ich von der Offenheit und Natürlichkeit meiner Schüler Emma und Berni begeistert“, sagt Lorette Cherăscu im Anschluss an die Filmvorführung. Die Deutschlehrerin, die ihre Dissertation zum Motiv des Hungers in der Literatur, u. a. unter besonderer Berücksichtigung auch von Herta Müllers Werk, verfasst hat, erzählt in dem Film, wie sie sich persönlich mit Herta Müllers Schreiben identifiziert hat. Es ist nicht zu übersehen, dass die beliebte Deutschlehrerin Lorette Cherăscu viel Herzblut in das Unterrichten steckt und eine besondere Beziehung zu ihren Schülern pflegt. „Zwar kenne ich Emma seit vier und Berni sogar seit acht Jahren, da ich auch im Gymnasium seine Klassenlehrerin war, ich habe beide auch in allen ihren NiL-Theaterstücken gesehen, wo sie entweder sehr wichtige, prägende oder sogar Hauptrollen gespielt haben, aber im Film war das noch einmal ein ganz anderes, besonderes Erlebnis. Sie so groß und hautnah auf dem Kino-Bildschirm zu erleben, sie in ihrer authentischen, ungekünstelten Art wiederzuerkennen, an manchen Stellen über ihre unverblümten Anmerkungen herzhaft zu lachen, war einzigartig für mich. Ich bin sehr stolz auf Emma und Berni, auf ihr Auftreten und insgesamt ihre Leistung“, sagt die Klassenlehrerin.
Der Dokumentarfilm „În căutarea Hertei Müller, documentarul unei absențe“ (Auf der Suche nach Herta Müller, die Doku einer Abwesenheit) in der Regie von Bildregisseur und Hochschullehrer Gheorghe Șfaițer entstand als Zusammenarbeit zwischen rumänischen und ungarischen Fernsehproduzenten im Rahmen des Projekts „Literatura salvată“, das deutschsprachige Schriftsteller aus den beiden Nachbarländern zu einer Debatte zusammengebracht hatte. Dabei arbeiteten die rumänische Journalistin Brândușa Armanca aus Temeswar und Judit Klein aus Ungarn als Filmemacherinnen zusammen. Für die Aufnahmen und die Bearbeitung war der Kameramann Olimpiu Vuia zuständig. Finanziert wurde die Erstellung des Dokumentarfilms vom Kulturministerium durch das Projektezentrum der Stadt Temeswar im Rahmen des Programms „European Echoes“. „Wir haben uns vorgenommen, zumindest die Namen der Nobelpreisträger in die Kulturhauptstadt zu bringen, und das ist uns durch diesen Dokumentarfilm gelungen. Wir haben eine Perspektive gewählt, die keine Polemik hervorruft“, sagte Brândușa Armanca. Regisseur Gheorghe Șfaițer erklärte, dass die Doku mit einem geringen Budget erstellt wurde. „Wir wollten keine Doku mit einem strengen Kommentator erstellen, sondern eine Art offene Parabel, die eine verspielte Suche und eine naive Recherche bietet“, erklärte der Dozent an der Temeswarer Kunstfakultät.
Der Film wurde nicht nur im Timiș-Kino gezeigt, sondern am Tag darauf auch im Kulturheim in Nitzkydorf und am vergangenen Wochenende auch bei TVR Timișoara. Die beiden Protagonisten waren bei den Filmvorführungen in Temeswar und Nitzkydorf vor Ort und beantworteten im Anschluss souverän die Fragen des Publikums. Beide zeigten sich sehr begeistert darüber, was aus den Aufnahmen geworden ist. Auf die Frage, wie sie ihre Kolleginnen und Kollegen davon überzeugen würden, sich den Film anzuschauen, antwortete zuerst Emma: „Es wäre die ideale Gelegenheit, ein bisschen über mich und Berni zu lachen, aber auch, mehr Informationen über Herta Müller zu bekommen“. Bernard stimmte dem nicht unbedingt zu: „Sie sollten nicht über uns, sondern mit uns lachen. Ich möchte aber noch etwas hinzufügen: Es wäre wunderbar, wenn man die notwendige Finanzierung für die Sanierung dieser wunderschönen katholischen Ortskirche, die dem Verfall ausgesetzt ist, aufbringen könnte“, sagte er. Auch in dem Film wird seine Begeisterung über das Gotteshaus deutlich.
„Emma und Berni sind sowieso kluge, sprachgewandte, reife und anpassungsfähige Jugendliche, somit wurden sie ja für das Film-Casting vorgeschlagen und dann schließlich auch gewählt. Aber diese neue Erfahrung hat sie sicher noch mehr reifen lassen. Im Film mussten sie ja unbekannte Leute ansprechen und befragen, die Diskussion anhand ihrer Fragen in eine gewisse Richtung lenken, offen und gesprächsfreudig sein. In dem Augenblick, als sie als Protagonisten nach der Premiere auf der Bühne standen, waren sie keine Schüler mehr, sondern erwachsene junge Menschen, die selbstsicher auftraten und im Rampenlicht regelrecht strahlten. Sie haben sich aber nicht nur als Persönlichkeiten entwickelt, sondern auch Herta Müller auf eine interessante Art und Weise kennengelernt, die sie im normalen Schulunterricht nicht in dieser Form erlebt haben“, schlussfolgerte Deutschlehrerin Lorette Cherăscu.