Jahresende und Jahresanfang bringen mit sich den Drang, Rückschau zu halten und Fazit zu ziehen, um dadurch einen Ausgangspunkt für Zukunftspläne zu haben. Es gibt so gut wie keinen Moment im Jahr, welcher von so vielen positiven Vorhaben bestimmt wird. Die meisten werden dann jedoch bald fallengelassen. Meistens geht es wie in der Anekdote, in der ein Unternehmer zum Jahresanfang einen neuen Fitnesssaal eröffnet und diesen für seine Kunden mit der modernsten Apparatur ausstattet. Nach zwei Wochen lässt aber der Kundenandrang nach und seinem Geschäft droht das Aus. Also verwandelt er den Fitnesssaal in eine Weinbar – und siehe da, all seine Kunden sind wieder da und bleiben ihm für den Rest des Jahres treu.
Und trotzdem sollte ein Versuch, die Zeichen der Zeit zu deuten, nicht unversucht bleiben. Wir stehen auf lokaler und globaler Ebene am Anfang eines Jahres, welches das Potenzial einer politisch-wirtschaftlichen Wende mit sich bringt. Wir werden die Kunden sein, die das Fitnessstudio stürmen. Die Frage: werden wir den eigenen Vorhaben treu bleiben oder lieber von der Seite vor einem Glas Wein das Geschehen verfolgen?
2024 – ein Jahr der Herausforderungen
2024 wird ein Jahr der Herausforderungen. Einer-seits sind Probleme zu meistern, die 2023 nicht gelöst wurden oder gelöst werden konnten: der Krieg in der Ukraine und im Gazastreifen, die eher bedrohliche wirtschaftliche Situation, die Migration, die Festigung, in vielen Fällen sogar die Erstarkung, nationalistisch-populistischer Tendenzen. Rückblickend kann man sagen, dass die meisten Probleme, denen die Welt Anfang 2023 gegenüberstand, eigentlich nicht gelöst wurden. Weltweit stehen wir einem entscheidenden Wahljahr gegenüber. In nicht weniger als 64 Ländern und in der EU stehen 2024 Wahlen an. In Zahlen umgeschrieben: fast 4 Milliarden Menschen werden vor den Wahlurnen erwartet, was ungefähr 49 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. In der Skizze eines Gesamtbildes sollte man aber nicht vergessen, dass weniger als die Hälfte der Länder, in denen Wahlen anstehen, demokratische Systeme sind.
Zu verfolgen sind natürlich die Wahlen in den Vereinigten Staaten im November (zurzeit zeichnet sich ein Sieg der Republikaner ab, doch sind noch zu viele Unbekannte im Spiel, als dass man sich auf eine dezidierte Prognose einlassen sollte) und die Präsidentschaftswahlen in Russland (in diesem Fall eine Überraschung – eine Niederlage Putins – zu erwarten, wäre mehr als utopisch). Für die EU-Politik sind natürlich auch die anstehenden Wahlen in Großbritannien wichtig. Unsicher ist der Sieg von Maia Sandu in der Republik Moldau, die durch ihre Wiederwahl den eingeschlagenen Pro-EU-Weg garantieren würde. Zugleich ist in Folge der Wahlen für das EU-Parlament auch auf dieser Ebene ein Erstarken der nationalistisch-populitischen Bewegungen zu erwarten. Für Rumänien bleiben im Besonderen die Wahlen in Österreich und in Belgien von zentraler Bedeutung, da hier die Weichen für den kompletten Beitritt Rumäniens zum Schengen-Raum gelegt werden.
Die Verhärtung der Positionen zwischen der westlich-demokratischen Allianz und der Achse Moskau-Peking-Pjöngjang, welche die Bedrohung eines neuen globalen kalten Krieges beherbergt, wird zu einer neuen Aufrüstungspolitik führen. Entscheidend dazu trägt die fehlende Aussicht einer Lösung im Ukraine-Krieg bei, sowie die nicht abzusehende Entwicklung des Gaza-Konflikts. Die Folgen werden mit Sicherheit auch auf wirtschaftlicher Ebene zu spüren sein. Der „Kampf“ um die Sicherung der Lieferwege für Ressourcen könnte sich nach den Wahlen in Russland, der EU und den USA zuspitzen. Die Handhabung dieses latenten Konflikts wird von den Siegern der Wahlen in der westlichen Hemisphäre bestimmt werden, da mancherorts, inklusive in den USA, eine Neupositionierung gegenüber Putin nicht auszuschließen ist.
Der Dichter arbeitet
In der zweiten Hälfte des Monats Dezember 2023 wurde, wie in jedem Jahr vor Weihnachten in Rumänien, auf unterschiedlichste Weise an die Geschehen im Dezember 1989 erinnert. Es wurde debattiert, analysiert und evaluiert. Man hat sich weniger mit den Ereignissen an sich beschäftigt, sondern versuchte die Entwicklungen der letzten 34 Jahre Revue passieren zu lassen. Die zeitliche Distanz zu der Wende von 1989 war spürbar. Für mich entwickelte sich über die Jahre eine Szene aus jenen Tagen zu einem repräsentativen Bild: Direkt vor der ersten Mitteilung, die im Fernseher ausgestrahlt werden sollte, sagte Ion Caramitru zu Mircea Dinescu: „Mircea, arată că lucrezi!“ (Mircea, zeig, dass du arbeitest). Sobald die Direktübertragung beginnt, senkt der Dichter seinen Kopf. Sein Blick trübt sich. Die Kamera schwenkt auf sein Gesicht und zeigt ihn in Großaufnahme. Man sieht, wie ihm der Schweiß aus allen Poren ausbricht. Dabei sagt Caramitru zum Volk: „Uitați poetul lucrează!“ (Schaut, der Dichter arbeitet). Diese Spannung zwischen „zeig, dass du arbeitest“ und „schaut, er arbeitet“ kann als Sinnbild für den rumänischen politischen Alltag gelten.
Das rumänische Superwahljahr 2024 wird uns sicher mit unzähligen „Arbeitsbeweisen“ versorgen. Alle Politiker, die sich zur Wahl nominieren lassen werden, werden ihre Arbeitskraft, ihre Erfolge und ihre Pläne vorlegen. Auch wenn die Methodik hinter den Wahlkampagnen eine Wissenschaft in sich ist, bleibt der Beweis der eigenen Fähigkeiten eine conditia sine qua non für jede Wahlkampagne, denn die Arbeitskraft und -fähigkeit soll dem Wähler nicht nur erklären, warum die Person gewählt werden soll, sondern sie soll auch zeigen, dass die Person Teil des (Arbeiter)Volkes ist. Er/sie ist auch „nur“ ein Otto-Normalverbraucher. Beispielhaft dafür das Bild mit Premier Marcel Ciolacu, der in einem Tante-Emma-Laden eine Tüte in Rumänien produzierter Pufuleți kauft.
Auch wenn die Wahlergebnisse, wenigstens auf nationaler Ebene, schon seit Längerem absehbar sind, dürften die anstehenden vier Urnengänge 2024 so manche Überraschung mit sich bringen.
Im europäischen Vergleich war die Wahlbeteiligung in Rumänien (die ersten Jahre nach 1989 ausgenommen) nie besonders hoch. Das in Rumänien herrschende allgemeine Misstrauen gegenüber der politischen Klasse, die Politikverdrossenheit und das Gefühl der Alternativ- und Perspektivlosigkeit dürften für ein neues Tief an Wahlbeteiligung sorgen.
Eine weitere Frage betrifft die Art und Weise, wie die wahrscheinlich siegende Allianz der roten Rosen und dem blaugelben Pfeil mit der aufsteigenden politischen Kraft, die schon im Namen ein goldenes Zeitalter verspricht, umgehen wird. Zugleich kann noch niemand einschätzen, wie groß das Wachstum der Goldenen auf lokaler Ebene (Bürgermeisterämter, Kreisverwaltungen und Stadtverwaltungen) tatsächlich sein wird. Die Allianz der Kleinparteien im rechten Spektrum wird nicht wirklich das Tagesgeschehen mitbestimmen können, da ihre zu erwartenden, eher niedrigen Zahlen dazu führen werden, dass sie, wie zurzeit, von allen anderen im Entscheidungsprozess von politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen ignoriert werden. Weiterhin ist ein Einzug neuer Parteien ins politische Leben als mögliche Alternativen auf allen Ebenen mehr als unwahrscheinlich.
Ob gewollt oder gezwungenermaßen wird sich die rumänische politische Klasse doch so mancher Herausforderung stellen müssen. Soziale Unruhen zeichnen sich schon ab: in diesen Tagen drohen zum Beispiel die Angestellten im Gesundheitswesen mit einem Generalstreik. Ihre Forderungen: Freigabe der im Rahmen von Sparmaßnahmen gesperrten Posten und Lohnerhöhungen. Man darf mit mehreren derartigen Bewegungen im Laufe des Jahres rechnen. Was die Lohnerhöhungen betrifft, steht die Regierung nicht nur finanziell, sondern auch zeitlich unter Druck. Versprochen wurden Lohnerhöhungen schon 2023, doch sind diese laut Gesetz sechs Monate vor dem Ablauf des Regierungsmandats verboten. Es bleibt abzuwarten, ob das politische Kalkül oder die wirtschaftliche Verantwortung siegen wird (ein Blick zurück in andere Wahljahre lässt einen bitteren Beigeschmack aufkommen). Weiterhin muss die Regierung den Abruf der durch den Wiederaufbau und Resilienzplan zur Verfügung stehenden Mitteln sichern, da davon die Durchführung des geplanten Haushalts abhängt. Trotzdem bleibt die Einhaltung des Handelsdefizits von drei Prozent, wie durch den Maastrichter-Vertrag vereinbart, eher unwahrscheinlich. Rumänien hat diesen seit 2020 nicht mehr einhalten können (2023 überstieg er fünf Prozent). Die Prognosen für 2024, trotz optimistischer Chorgesänge der Regierungsparteien, rechnen mit einer ähnlichen Situation wie 2023.
Fazit
Auch wenn der Jahresanfang mit seinem einhergehenden Optimismus zu manchmal übertriebenen Vorhaben und Versprechen verleitet, sollte man die Rahmenbedingungen nicht aus den Augen verlieren. Schweißtriefende Gesichter werden mit Sicherheit eine blumige Zukunft versprechen, an der sie selber bis zur totalen Verausgabung arbeiten und auch weiterhin arbeiten werden. Sie werden mit Sicherheit sich sogar bereit erklären, für uns ins Fitnessstudio zu gehen, während wir ein Glas Wein genießen dürfen. Doch sollte man nicht vergessen: nur wer selber zur Hantel greift, bleibt gesund. 2024 wird wahrscheinlich kein einfaches Jahr werden. Die meisten existierenden Probleme werden keine Lösung finden, doch dürfte manches Anfang 2025 mittelfristig klarer sein. Bis dahin bleibt es jedem selber überlassen: Fitnessstudio oder Weinglas.