Es sind zwei internationale Wochen, in denen die acht Teilnehmerinnen und Teilnehmer viel von den unterschiedlichen Mediensystemen ihrer Länder erfahren. In denen sie sich über die unterschiedlichen Situationen und politischen Hintergründe in ihren Regionen austauschen. In diesem Jahr kommen sie aus Armenien, Bulgarien, Georgien, Kasachstan, Russland, Rumänien, der Ukraine und Usbekistan – das Sprachgemisch ist vorprogrammiert, die Kommunikationssprache des Seminars ist aber Deutsch.
Während der beiden Wochen im Oktober stehen Erkundungen der Städte Leipzig, Dresden, Erfurt, Weimar und Berlin auf dem Programm – ein kulturgeschichtlicher Rundumschlag. In allen Standorten besucht die Gruppe Medien-Institutionen, unterschiedliche Standorte des MDR, spricht mit Vertreterinnen und Vertretern aus Medien und Politik, NGO’s und Stiftungen.
Ein vor Kurzem veröffentlichter Dokumentarfilm, eine Stippvisite beim traditionsreichen Leipziger Uni-Radio „Mephisto“, ein Besuch der Bundespressekonferenz, ein Einblick in die Geschichte im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig, Gesprächsrunden mit Journalistinnen und Journalisten aus Mittel- und Osteuropa. Diskussionsrunden mit Michael Kayser von der BBC, mit Klaus Brinkbäumer, Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), mit Günter Verheugen, dem ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, nun Zuständiger für Mittel-, Osteuropa und den Kaukasus im Bundeskanzleramt, und mit Steffen Hebestreit, dem Sprecher der deutschen Bundesregierung sind Teil des Seminarprogramms 2023.
Das SSM-Seminar – Erfolgsgeschichte seit über 20 Jahren
Werner Lange, Initiator des Programms, weiß von den meisten der bisher rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, was aus ihnen geworden ist. Eine Stellwand mit allen Portraitfotos ziert den Seminarraum. Das SSM-Seminar (Sächsische Stiftung für Medienausbildung) findet seit 2001 statt. Es hat eine besondere Geschichte: „Nach dem Fall der Mauer gab es in den Ländern in Ost und West ein Bedürfnis der Menschen, sich gegenseitig neu kennen zu lernen.“ Lange arbeitete damals für den Westdeutschen Rundfunk und war als Journalist oft in Osteuropa unterwegs. Aus dieser Zeit stammt auch das Notizbuch mit vielen Namen von osteuropäischen Journalistinnen und Journalisten. Fritz Pleitgen, der damalige Intendant des WDR, fragte, was man denn wohl mit dieser interessanten Namensliste alles anstellen könnte. Irgendwann ergab sich dann ein Projekt, gefördert durch eine Stiftung aus dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) und der Sächsischen Landesanstalt für neue Medien (SLM), in dessen Rahmen Journalistinnen und Journalisten aus Osteuropa eingeladen wurden, die Vor- und Nachteile des Mediensystems in Deutschland kennenzulernen. Der Austausch sei intensiv, so Lange. Man habe verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Regionen, auch aus Regionen, in denen es Konflikte gebe, zu Gast: „Man hat hier die Möglichkeit, mit den Menschen tatsächlich über die neuen Situationen und Konflikte zu sprechen, nicht nur darüber, wie sie selbst die Welt sehen, sondern auch wie ihre Freunde und Verwandten das sehen. Und die Verwandten sehen das manchmal schärfer, manchmal ganz anders. Dann kommt man in andere Welten rein und mit einem Mal merkt man, dass die Leute sich verstehen, selbst wenn sie aus Spannungsgebieten kommen. Nach ein paar Tagen merkt man, wie genau die Journalisten aus den Konfliktgebieten miteinan-der ins Gespräch kommen und gelernt haben, miteinander zu sprechen. Die hängen dann immer zusammen und tauschen einfach Informationen und Meinungen aus.“
Hineinschnuppern in verschiedene Mediensysteme
Wie funktioniert das Mediensystem in Deutschland? Wo hat es seine Wurzeln? Wo liegen seine Stärken und Schwächen? Eintauchen in ein komplexes System: Wie ist der Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wie der der privaten Medien? Wie funktioniert die Finanzierung, wie die Programmgestaltung? Wo wird wann wie Werbung geschaltet und warum?
All das regelt der Medienstaatsvertrag. Ausgehend vom Mitteldeutschen Rundfunk, in dem die Länder Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt zusammengefasst sind, werden Gesamtaufbau und Kontrollinstanzen des Systems nachvollzogen. Neun Rundfunkanstalten in einem andauernden Aushandlungsprozess bezüglich Programmgestaltung und Finanzen – Föderalismus vom Feinsten.
Aber schnell wird auch klar: Einfach macht man es sich nicht. Geld wird nicht irgendwie verteilt. Durch Organe wie die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, Rundfunkrat und Verwaltungsrat soll eine gerechte Verteilung von Geldern, ein ausgewogenes Programm, Partizipation verschiedener gesellschaftlicher Milieus und eine Kontrolle der Abläufe innerhalb der Anstalten gewährleistet werden.
Video-Schalten zu Journalisten in Polen, Bulgarien, Slowakei: In der Slowakei verstärken sich gerade die Verbindungen zwischen öffentlich-rechtlichem Fernsehen und Rundfunk und Politik. In Polen werden viele Medien zensiert. Die bulgarische Journalistin berichtet vom „Copy-Paste-Journalismus“. Einige der Journalistinnen und Journalisten aus Osteuropa würden sich ein deutsches System, das vieles genau regelt, sicher herbeiwünschen.
Wie geht gutes Programm für Kinder?
An einem nebligen Freitagmorgen ist die Gruppe dann im Landesfunkhaus in Thüringen zu Gast. Der Kinderkanal, ein Gemeinschaftsprojekt der Landesrundfunkanstalten von ARD und des ZDF, produziert Formate für Kinder und Jugendliche: Filme, Serien, Wissenssendungen, Reportagen, Nachrichten. Bei Kindern müsse man im „Hier und Jetzt anfangen“, wenn man gutes Programm machen wolle, so die Macher. Das Programm ähnelt in seinen Formaten dem Erwachsenenprogramm. So berichtet die Nachrichtensendung „Logo“ – kindgerecht aufbereitet – über das aktuelle Tagesgeschehen, auch über den Krieg in Nahost oder den Krieg in der Ukraine. Zielgruppe sind neben den Kindern auch die Eltern. Das Fernsehprogramm wird zusätzlich von Dialogangeboten wie Chats oder Rückmeldungen per Post begleitet.
Ein Filmabend, der unter die Haut geht
„White Angel – Das Ende von Marinka“ heißt der Film, der an einem Abend gezeigt wird. Die Dokumentation, kurz zuvor Eröffnungsfilm der „DOK-Leipzig“, zeigt Vasyl Pipa, einen ehemaligen Polizisten, nun Sanitäter, der mit seinem Kollegen Rustam unter Bombenhagel versucht, die Dorfbewohner von Marinka zu überzeugen, ihre Häuser zu verlassen. Das Dorf liegt in der Ostukraine, westlich von Donezk. „White Angel“ ist der weiße Rettungswagen, den sie fahren. Den Film hat der Investigativjournalist und Kriegsreporter Arndt Ginzel aus den Bildern der Helmkamera des Sanitäters geschnitten. Mit Wucht holt der Film die Realität ins Wohnzimmer. Der Krieg rückt seltsam nah an diesem Abend.
Was bleibt nach zwei intensiven, internationalen, vollgepackten Wochen? Der Austausch, der Dialog, der Vergleich, die Geschichte des anderen und nicht zuletzt die Kontakte in andere Länder: Während der Kochabende, bei denen bulgarische Mussaka und Schopska-Salat, Samsa-Teigtaschen aus Kasachstan, Plov aus Usbekistan und Blinis auf den Tisch kommen, rücken alle näher zusammen. „Eine einmalige Erfahrung“, sagt eine ehemalige Teilnehmerin aus der der Slowakei in einer Video-Schalte. „Ich hoffe, dass ihr nach dem Seminar auch so viele Kontakte haben werdet wie ich mit meinen Kollegen. Das sind Leute, auf die ich mich immer wieder verlassen kann.“ Das bestätigt auch Werner Lange: „Solche Netzwerke können über die Jahre viele Bedürfnisse bedienen. Bei Reportagen fällt es am meisten auf, wenn sich die Leute untereinander helfen. Wenn jemand aus Rumänien nach Ungarn fährt und beide sprechen Deutsch. Dann kommt jemand aus der Slowakei dazu und derjenige spricht auch Deutsch und mit einem Mal wird die Reportage auf Deutsch gemacht und wird dann in die Landessprache übersetzt. Das ist dann schon etwas Außergewöhnliches.“