Nichts für rotweintrinkende, käsedegustierende Frankophile...

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Der österreichische Schriftsteller Franzobel hat in der letzten Woche eine literarische Reise durch Rumänien unternommen, um seinen Roman „Das Floß der Medusa“, der beim EuroPress Group Verlag in der rumänischen Übersetzung von Victor Scorade] bereits erschienen ist, zu präsentieren. Mit dem rumänischen Publikum in Bukarest, Temeswar/Timi{oara, Klausenburg/Cluj-Napoca und Jassy/Iași hat er auch darüber diskutiert, wie diese literarische Studie über das Überleben in Extremsituationen und die Grenzen der menschlichen Natur zustande gekommen ist und über die Aktualität des Themas.

Die literarische Reise wurde vom Österreichischen Kulturforum, dem Verlag EuroPress Group, den Buchhandlungen C²rture{ti und dem Internationalen Literatur- und Übersetzungsfestival Jassy (FILIT) organisiert.

In Bukarest stellte Franzobel seinen Roman vorige Woche, am 12. Oktober, in der Fakultät für Fremdsprachen und -literatur im Gespräch mit Prof. Dr. Hora]iu Gabriel Decuble, Leiter des Germanistik-Departements, vor Dozenten und Studierenden vor.

Autor und Werk

Mit zivilrechtlichem Namen heißt der Autor Franz Stefan Griebl, doch weltweit ist er unter seinem literarischen Pseudonym Franzobel bekannt. Er hat die Höhere Technische Lehranstalt für Maschinenbau in Vöcklabruck, Österreich, absolviert und sich rechtzeitig zum Studium der Germanistik und Geschichte in Wien hin orientiert. Die Gattungen, in denen er seine Kunst ausgeübt hat, sind Lyrik, wo man Prof. Dr. Hora]iu Decuble zufolge den Einfluss der Wiener Gruppe, die Experimentierlust des Dadaismus verspüren kann, Drama und insbesondere Prosa. „Eine Menge Romane und sogar Kinderbücher hat er geschrieben, in denen er zum Beispiel die bildende Kunst mit der Literatur kombiniert hat. Wahrscheinlich unter Einfluss von Martin Adler hat er sich auch an Dialektgedichte herangewagt“, fügte Decuble hinzu.Dieses umfangreiche literarische Werk hat ihm viele Preise eingebracht, darunter der Ingeborg-Bachmann-Preis 1995 und der Arthur-Schnitzler-Preis, der seit 2002 vergeben wird und dessen erster Träger er ist.

Historischer Kontext und Zusammenfassung

In seinem preisgekrönten historischen Epos „Das Floß der Medusa“, erschienen 2017 im Paul Zsolnay Verlag, Wien, zu dem das rumänische Publikum nun auch Zugang hat, handelt sich um die Geschichte eines Schiffbruchs im 19. Jahrhundert. Prof. Dr. Decuble bot weiter Hintergrundinformationen zum historischen Kontext des im Roman geschilderten Ereignisses und eine kurze Zusammenfassung: 1816, nach dem Sturz Napoleons, war Frankreich ideologisch gespalten. Die Bourbon-Monarchie hatte die Macht zurückerobert und war von den Royalisten unterstützt und von den Bonapartisten, den Nostalgischen und den Liberalen hinterfragt. Vor diesem Hintergrund wurden viele aristokratische Veteranen in hohe Ämter ernannt, unter anderem auch ein Schiffskapitän, der ein Schiff namens „Medusa“ nach Mauretanien führen sollte, eine einstmalige Kolonie Frankreichs, die nach dem Sturz Napoleons zurück erhalten wurde. Das Schiff strandete auf einer Sandbank vor der Küste Mauretaniens. Der Gouverneur segelte sofort mit seinen Begleitern in den Rettungsbooten weg. Die übrig gebliebenen knapp 150 Matrosen bauten ein Floß, dass sie zur Küste bringen sollte. Man hat ihnen ursprünglich gesagt, sich nicht zu fürchten, denn sie würden in Kürze gerettet und dann hat man sehr schnell das Rettungsseil gekappt. Das Floß trieb völlig isoliert auf offener See. Nach 13 Tagen wurden nur noch 15 Überlebende durch ein anderes Schiff gerettet.„Die tragische Geschichte wurde in Frankreich zum Symbol für die Unfähigkeit der neu etablierten Macht. Langsam wuchs die Geschichte auch zum Mythos, – denn viele Geschichten haben sich diesem narrativen Nexus angefügt – etwa, dass die Menschen in ihrer Verzweiflung auf diesem Floss sich mit Leichnamen ernährt hätten. Es ist ein faszinierendes Buch, das Kraftausdrücke nicht scheut und die ganze Dramatik des Geschehens zum Teil sehr realistisch, aber auch mit viel Fabulierlust, zeigt, wobei der Wahrheitskern doch intakt bleibt“, hob Decuble hervor.Der Autor erzählte, dass es sogar ein sehr berühmtes Bild mit Szenen eines Schiffsbruches von Théodore Géricault, „Le Radeau de La Méduse“, mit einem Ausmaß von fünf mal sieben Metern zu dieser Geschichte gegeben habe. Dieses hängt im Louvre-Museum in Paris, Frankreich. Das Floß war genau vier Mal größer (7x20 Meter) als das Bild und auch kein eigentliches Floß, sondern eher ein Gitterwerk, auf dem knapp 150 Menschen zusammengepfercht waren, detaillierte Franzobel. 

Ohne Nahrung lagen die Matrosen zwei Wochen lang in einem Zustand, der sich der Moral völlig entzogen hatte. In diesem Zeitraum hat es immer wieder Konflikte untereinander gegeben. Verschiedene Gruppen hatten sich nach Rassen-, Konfessions- oder Standeskriterien gebildet und gegeneinander gekämpft. 

Der Autor las einen Abschnitt aus dem ersten Kapitel, der Vorgeschichte des Romans, worauf Decuble die Musikalität des Textes, dessen Unbefangenheit in Ausdruck und Fantastik sowie die Detailtreue und zugleich Drastik betonte. Anschließend gab dieser den Start für die erwartete Fragerunde frei.

Erzählstrategie

Auf die Frage, wie er seinen Erzähler definieren würde, der sich gemäß den Strategien der Postmoderne viele Freiheiten nimmt, wie etwa die Mischung von Zeit- und Erzählebenen,  er spricht über den Effekt von UV-Strahlung und bringt sogar Arnold Schwarzenegger in den Diskurs, indem er einen Matrosen mit ihm vergleicht, antwortete Franzobel, sein Erzähler sei nicht allwissend, aber viel wissend und – was für einen historischen Roman untypisch ist – er sei in der Gegenwart angesiedelt. Daher seien solche Vergleiche möglich. 
Zuerst hatte er viel Literatur vom Anfang des 19. Jahrhunderts gelesen, viel recherchiert, und als er versuchte, in jenem Stil zu schreiben, bemerkte er, dass es „irgendwie unwahrhaftig“ klang.

Die vielfachen Perspektiven der Gestalten gibt der Autor allerdings durch eine Reihe von inneren Monologen wieder, die im Roman eingebaut sind, ohne die Stimme anzugeben. Dies erfolgt aus dem Kontext. „Der Leser muss ein bisschen mitdenken“, amüsierte sich der Autor. Diese Strategie empfindet Franzobel als interessante und glücklichste Form des Erzählens, „weil ich unterschiedliche Kameraperspektiven einschalten kann, die sich auch teilweise widersprechen können, und das ist auch sehr spannend“. 

Recherchevorgang

Als nächstes war Prof. Dr. Decuble am Recherchevorgang für einen solchen historischen Roman interessiert und an der Art und Weise, wie sich der Autor den nautischen Wortschatz angeeignet hatte. 

Franzobel erklärte, sich die nautischen Begrifflichkeiten von Berater Martin-Tino Mixer, der auf historischen Segelschiffen über die Ozeane schippert, erklären und viel von seinen eigenen Erfahrungen auf jenen Holzsegelbooten erzählen ließ. Beide trafen sich einige Male, der Berater las den Text Korrektur, machte den Autor auf eventuelle Unstimmigkeiten im Bereich des Segelns aufmerksam, zusammen gesegelt seien sie jedoch nicht. 

Franzobel hat außerdem versucht, einen Plan des originalen Schiffs „Medusa“ zu finden, aber musste feststellen, dass damals keine Pläne gezeichnet wurden. Die Schiffsbauer gingen direkt ans Werk und haben nur mit ihrer Erfahrung das Schiff gebaut. Was sich übrigens aus seiner Forschung ergab, ist, dass 13 Schiffe in der französischen Marine „Medusa“ getauft worden sind. Insbesondere hoffte man damals, dass Kriegsschiffe mit diesem Namen – im Sinne der antiken mythologischen Gorgone – ihre Gegner versteinern würden.

Ein historisches Sujet

Weiter wurde der Autor gefragt, wie er überhaupt auf die Idee gekommen sei, über solch ein Sujet zu schreiben, zumal es in Österreich unüblich sei, sich nicht mit der bodenständigen österreichischen Thematik zu befassen, mit ein paar Ausnahmen von Autoren mit Universalitätsanspruch, zu denen auch Franzobel gehört, oder mit Migrationshintergrund.
Früher habe er sich zwar an Österreich abgearbeitet, aber irgendwann hatte es dem Autor gereicht, wiederholt Anti-Heimatliteratur zu schreiben, wobei er immer wieder  Lust gehabt habe, mit Dialekt zu arbeiten, insbesondere in Theaterstücken. Im Fall der großen Romane fühlte der Schriftsteller, „wenn man sich von Österreich befreit, tut sich die ganze Welt auf und dann hat man einfach unglaublich großartige Geschichten“. Ihm scheint die Welt vielfältiger als seine Heimat zu sein und diese bietet viel mehr Erfahrungsmöglichkeiten, vor allem wenn er Recherchereisen an die jeweiligen Orte unternehmen muss. Für den erwähnten Roman war er in Afrika und darüber schreiben zu dürfen, empfindet er als ein Privileg.
Die konkrete Idee dazu wurde von einem befreundeten „Theatermenschen“ inspiriert, der ihm über jenen Schiffbruch 1816 erzählte. „Es ist, wie wenn man sich verliebt. Man hört eine Geschichte und weiß  in dem Moment, das muss man schreiben“, beschrieb Franzobel. Was aber auch eine wesentliche Rolle am Anfang spielte, waren die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer. Die Tatsache, dass jährlich Tausende von Flüchtlingen im Meer ertrinken, erschütterte ihn. Es wird im Buch darauf angespielt, ohne dass der Roman wirklich Bezug darauf nimmt.

Rezeption in Frankreich

Nachdem sein Buch ins Französische (mittlerweile auch ins Italienische, Rumänische usw.) übersetzt wurde, war der Autor selber neugierig, wie es beim französischen Publikum angekommen ist, denn das Sujet bleibt ein Tabuthema in Frankreich. Infolge seiner Lesungen an französischen Schulen und Universitäten stellte sich heraus, dass die Leser das berühmte Gemälde mit dem Schiffbruch unter Umständen kannten, aber dass eine echte Geschichte mit dem Bild und Roman verbunden war, wusste überhaupt niemand. Dies löste eine neue Diskussion über die Geschichte aus, zumal der Roman anlässlich des 200. Gedenktages der Überlebenden veröffentlicht wurde. 

Latente Gefahr 

Von Studierenden gefragt, wie er als Schriftsteller, der sich zum Teil mit seinen Gestalten identifiziert und ihre Erfahrungen bis zu einem Punkt miterlebt, mit dem Kannibalismus umgegangen ist, wies Franzobel auf das Gedankenexperiment als Strategie hin. Die anfängliche Erschütterung wird dann durch die technischen Einzelheiten beim Schreiben, wiederholtes Lesen und Kennen des Stoffes vielleicht minimiert. Außerdem hat er zu bekannten Kannibalismus-Fällen recherchiert und dies hat es ihm erleichtert, sich ein bisschen hineinzufühlen. 

„Meine Literatur ist nicht so, dass ich jemanden verurteilen will. Sondern mich interessiert  eher, wie es dazu gekommen ist, dass ein Mensch so gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Ich glaube, dass diese Barbarei, wie man jetzt auch in der Gegenwart sieht, in einer funktionierenden Gesellschaft sehr schnell ausbrechen kann (…) und dass die Menschheit sich immer wieder dessen bewusst sein muss“.

Der Absatz, mit dem Franzobel die Lektüre aus seinem Roman beendete, verharrte jedoch im Gedächtnis des Publikums: „In jedem Fall ist dieser Vorfall etwas, das am französischen, ja am europäischen Nationalstolz  kratzt, weil er den Abgrund des Menschen offenbart, zeigt, was mit dieser Spezies alles möglich ist. Nichts für frankophile, rotweintrinkende, käsedegustierende Modefuzzis. Gut, die Sache liegt mittlerweile  mehr als 200 Jahre zurück. Wir können es uns also bequem machen und uns versichern, wir sind anders. Bei uns kommt so was nicht vor. Doch ist das wirklich so?“ Ein Anstoß zum Nachdenken.

 

Sursa: https://adz.ro/artikel/aktuell/artikel/nichts-fuer-rotweintrinkende-kaesedegustierende-frankophile

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