„Grün ist die wichtigste Farbe einer Stadt“, soll Constantin Noica gesagt haben. Wie oft Gabriel Liiceanu und Andrei Pleșu vor rund 45 Jahren auf Besuchen bei ihrem Mentoren in einer Blockhütte der Hohen Rinne vom Zibins-Gebirge/Munții Cindrel unterwegs auch Zwischenhalt im nahen Hermannstadt/Sibiu gemacht haben, lässt sich im Kult-Tagebuch „Jurnalul de la Păltiniș“ erahnen. Entweder fuhren sie per Bahn nach Hermannstadt und von da mit dem Linienbus auf die Hohe Rinne, oder mit einem Trabant von Bukarest bis zum Zielort. Stichwort Auto – klar widerspricht es dem Fingerzeig auf urbanes Grün, der Maestro Noica nachgesagt wird. Hermannstadt/Sibiu, auf das er große Stücke hielt, gibt ihm recht, je mehr die Welt fortschreitet und seine Vision zurückliegt. Wo ein PKW durch das alte Tor zur Gasse passt, steht meist auch einer im Hof. Aber es gibt auch jede Menge Gegenbeispiele. Weil in der Unter- und Oberstadt die Zeit häufig stehengeblieben ist.
Und das ist gut so. Parks sind die grünen Lungen und vollständig autofreie Innenhöfe die Atemwege einer Stadt. Öffentlich Erstere, privat Letztere. Zum Leidwesen von Touristen wie Einheimischen, die nur zu gerne manch urigen Innenblick auch auf Hermannstadt suchen, aber nirgendwo Hinweise finden, wo eigentlich versteckte Winkel zu entdecken wären. Tot wie etwa durch Vernachlässigung des Schulterblicks beim Autofahren nämlich sind sie gar nicht, auch wenn im zentralen Hermannstadt oft derart einfach und bescheiden gewohnt wird, dass man hinter so vielen Straßentoren ohne jegliche Spur einer Aufschrift keine Hingucker vermutet. Besuchern, die sie im Zeitraffer abhaken wollen, macht Südwestsiebenbürgens größte Stadt es sehr einfach.
Mut zum Neuland kostet es, sich das Brukenthalmuseum oder die evangelische Stadtpfarrkirche am Huetplatz samt Turmbesteigung für ein anderes Mal aufzuheben, und stattdessen den von klein auf wohlerzogenen Selbstzwang zu tadellosem Benimm auf der Gasse fallenzulassen. Ein vorsichtiger Blick durch das Schlüsselloch, eine Ritze im Tor oder den Postschlitz, wenn auf derselben Straßenseite gerade niemand in Bravheit gebietender Sichtweite unterwegs ist? Nur zu! Genau das ist die Taktik zum Erspähen grüner Innenhöfe. Doch Vorsicht: bitte das Anwenden solcher Tricks als Reisegruppe unbedingt vermeiden! Gehen Sie liebend gerne allein oder zu zweit auf Bilderfang in der berührungsempfindlichen Grauzone zwischen Öffentlichem und Privatem, aber nie in einer Menschentraube. Drei, höchstens vier Neugierige sind das Maximum. Ein bisschen Knigge muss schon sein.
Gute Rumänisch-Kenntnisse auch. Obwohl die ein oder andere Tür grundsätzlich weder von innen abgeschlossen ist noch beim Öffnen knarzt. Was sprichwörtlich biblisch alten Pforten kaum zuzutrauen wäre. Oft also ist ein unbemerkter Zugang in die Innenhöfe leichter als gedacht. Und falls einen dabei doch einmal auf frischer Tat eine fragende Person ertappt, die im betreffenden Haus wohnt, das fünf oder sechs Jahrhunderte auf dem Buckel haben kann, braucht man nicht gleich aus Anstand zur Salzsäule erstarren. Ein freundlicher Gruß an die Einheimischen, gefolgt von knapper Eigenvorstellung, mit einem ehrlichen Schuss Demut vorgebracht, wirkt Wunder bei den jeweiligen Leuten, die von fremd Hereinschneienden natürlich nicht überrumpelt werden mögen. Es liegt am höflichen Gast, der Verlegenheit so einer Begegnung routiniert, souverän und elegant zuvorzukommen. Die besten Chancen, nicht gleich wieder hinaus gebeten zu werden, haben Menschenkenner mit einem Gespür für das Kompliment an den Zauber der unverwechselbaren Innenhöfe Hermannstadts.
Hat man das passende Vokabular für sich arbeiten lassen, belohnt einen die Hausherrin oder der Hausherr sogleich mit ausladender Gesprächigkeit. Kaum ein Wohndomizil historischen Baudatums im Kern Hermannstadts wird von nur einer einzigen Person oder Familie bewohnt, und Rumäniens demografische Eigenheit bringt es mit sich, dass eigentlich überall in den bürgerlich-konservativen Ortszentren besonders Rentnerinnen und Rentner ihr eigenes Stück Wohnraum besitzen – teils schon seit 50 oder noch längeren Jahren. Eingefleischte eben, die nicht mehr arbeiten gehen und den ganzen Tag zuhause sind.
Tritt man ihnen freundlich entgegen, tun sie das Gleiche. „Es hätte ja sein können, dass ein Nachfahre der siebenbürgisch-sächsischen Familie aus Deutschland vorbeischauen möchte, die meinen Eltern damals ihre Wohnung verkauft hat!“ Tatsächlich haben sie alle das Zeug zu je einem Kinderparadies, diese im eigenen Saft stehenden Innenhöfe ohne glatt geschnittenes Gras. „20 Familien wohnten da im Haus“, erinnert sich die Anrainerin des Gartens am Ende einer Sackgasse der Unterstadt. Kann es vorzeiten etwas noch Schöneres als ein Aufwachsen inmitten naturbelassener Grünanlagen gegeben haben, wo nicht Rasenmäher-Dröhnen, sondern Kindergeplärre zu hören war?
Zwar musste man sich im kommunistischen Rumänien dem Zwang zum Leben auf engem Raum beugen, doch irgendwie idyllisch war es in Hermannstadt wahrscheinlich genau damals vor dem Zeitalter von Fernsprechanlagen statt surrenden Klingeln und Elektro-Chips statt handgroßen Torschlüsseln. Das Schnappschloss hingegen hat für Fremde, deren Eintritt es eigentlich verunmöglichen soll, einen gewissen Vorteil: die Türe zur Gasse bis zum Einrasten hinter sich zuzudrücken, kann noch leichter als das Umdrehen des Schlüssels vergessen werden. Ein unverhofftes Geschenk, das Aufmerksame unter der Kondition, beim Auspacken nicht gerade wie Einbrecher vorzugehen, immer auf dem Schirm haben sollten. Unvergessliche Ausbrüche in verloren geglaubte Welten schafft, wer sich feinfühlig vortastet.